Brüssel/Straßburg/Stuttgart – 27. Mai 2025
In einem politisch und wirtschaftlich bedeutsamen Schritt hat die Europäische Union den Autobauern mehr Zeit eingeräumt, um die verschärften CO₂-Flottengrenzwerte einzuhalten. Statt einer jährlichen Überprüfung sollen die Hersteller künftig innerhalb eines Drei-Jahres-Zeitraums etwaige Überschreitungen ausgleichen können. Damit reagiert Brüssel auf die schleppende Nachfrage nach Elektrofahrzeugen und die angespannte Lage in der europäischen Automobilindustrie.
Bereits im Vorfeld hatten sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat der EU-Mitgliedstaaten dem Vorschlag der EU-Kommission zugestimmt. Mit der offiziellen Zustimmung der Mitgliedstaaten am 27. Mai 2025 ist der Aufschub nun formell beschlossen. Die neuen Regeln treten 20 Tage nach Veröffentlichung im EU-Amtsblatt in Kraft.
Die Flottengrenzwerte gelten als zentrales Element der europäischen Klimapolitik im Verkehrssektor. Sie schreiben vor, dass der durchschnittliche CO₂-Ausstoß aller in einem Jahr neu zugelassenen Fahrzeuge eines Herstellers bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten darf. Für jedes Gramm CO₂, das darüber liegt, müssen die Hersteller Strafzahlungen leisten – aktuell 95 Euro pro Gramm und Fahrzeug.
Diese Regelung sollte ursprünglich zu einem schnelleren Markthochlauf von Elektrofahrzeugen führen. Doch die Realität 2025 sieht anders aus: Im ersten Quartal des Jahres blieb der Absatz von E-Autos EU-weit deutlich hinter den Prognosen zurück. Die Gründe sind vielfältig: hohe Strompreise, unzureichende Ladeinfrastruktur, anhaltende Lieferengpässe bei Halbleitern und Batterien sowie eine insgesamt gedämpfte Konjunktur.
Für die deutsche Autoindustrie, insbesondere für die in Baden-Württemberg ansässigen Konzerne wie Mercedes-Benz Group AG, Porsche AG und Audi AG, kommt die Entscheidung einer dringend benötigten Atempause gleich. Laut Daten des Kraftfahrt-Bundesamts gingen die Neuzulassungen im Jahr 2024 im Vergleich zu 2023 um rund ein Prozent zurück – mit etwa 2,8 Millionen neu zugelassenen Fahrzeugen. Verglichen mit dem Vor-Corona-Niveau von 2019 ist dies ein Rückgang von etwa 25 Prozent.
Besonders problematisch für die Zielerreichung sind die CO₂-Werte von Plug-in-Hybriden und Verbrennern, deren Anteile mangels ausreichend attraktiver E-Auto-Alternativen nicht schnell genug sinken. Während Tesla und chinesische Hersteller wie BYD Marktanteile gewinnen, kämpfen deutsche Autobauer nicht nur mit technischen Herausforderungen, sondern auch mit geopolitischen Risiken. Insbesondere der Handelskonflikt mit den USA, einschließlich der seit April 2025 geltenden 25-Prozent-Zölle auf europäische Fahrzeuge, belastet die Exportzahlen. Laut Statistischem Bundesamt gingen 13,1 % aller deutschen Pkw-Exporte 2024 in die USA – ein bedeutender Marktanteil, der nun gefährdet ist.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) lobte die Entscheidung als "wichtigen ersten Schritt". Verbandspräsidentin Hildegard Müller wies gegenüber der Deutschen Presse-Agentur darauf hin, dass politisches Handeln nicht nur in der Zielsetzung bestehe, sondern auch in der Ermöglichung der Umsetzung. In mehreren Bereichen, etwa Ladeinfrastruktur, Energiepreise und Batterieproduktion, seien die Rahmenbedingungen nicht ausreichend, um ambitionierte Umweltziele im vorgesehenen Zeitrahmen zu erreichen.
Der VDA fordert daher neben der Flexibilisierung auch zusätzliche industriepolitische Maßnahmen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu sichern.
Während die Industrie die Regeländerung begrüßt, äußern sich Wissenschaftler verhaltener. Felix Creutzig vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Mitglied im Nachhaltigkeitsbeirat von Mercedes, sieht in den CO₂-Flottengrenzwerten ein zentrales Klimaschutzinstrument im Verkehrssektor. Die Tatsache, dass Hersteller in der Vergangenheit vermehrt auf Elektromodelle gesetzt und Preise gesenkt hätten, sei ein direktes Resultat dieser Regelung.
Eine Flexibilisierung könne jedoch kurzfristig zu höheren Emissionen führen, warnt Creutzig. Ob der angestrebte Klimaschutzeffekt trotzdem erreicht wird, hängt maßgeblich davon ab, ob die Hersteller in den Folgejahren die Emissionsgrenzen nicht nur einhalten, sondern übererfüllen.
Ungeachtet der nun beschlossenen Fristverlängerung bleibt der Weg zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors steinig. Zwar sank laut Agora Energiewende der CO₂-Ausstoß des Verkehrs in Deutschland im Jahr 2024 gegenüber dem Vorjahr um zwei Millionen Tonnen, dies sei jedoch vor allem auf die Wirtschaftsflaute und den Rückgang des Lkw-Verkehrs zurückzuführen – keine strukturelle Verbesserung.
Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, ob die europäische Autoindustrie die notwendige Transformation meistert, ohne dabei an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Die nun beschlossene Flexibilisierung der Flottengrenzwerte verschafft der Branche zwar Spielraum – doch ob dieser ausreicht, um die Wende zur Elektromobilität zu vollziehen, bleibt offen.
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